WAS IST MINIMALISMUS? - MEINE PERSÖNLICHE DEFINITION
Der Minimalismus erfreut sich immer größer werdender Beliebtheit. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass es ein Thema ist, dass für Polarisierung sorgt. Eins vorweg: Minimalismus bedeutet für jede*n individuell etwas anderes. Daher versuche ich in meiner persönlichen Definition möglichst umfassend zu sein.
Ich selbst bin vor vielen Jahren auf den Begriff gestoßen, als ein neuer Lebensabschnitt begann und ich auf der Suche war. So geht es vermutlich vielen Menschen, die dem Thema Minimalismus begegnen. Sie finden zu ihm, weil sie an einem Punkt sind, an dem es nicht mehr so weitergehen kann, wie bisher.
Es ist die Suche nach Alternativen, die dazu führen kann, sich mit einem minimalistischen Lebensstil auseinandersetzen. Was das bedeutet und was der Minimalismus eigentlich genau ist, das möchte ich erörtern und zudem ein wenig von meiner persönlichen Geschichte erzählen.
MEINE REISE
Ich bin nämlich einige Zeit nach meinem Abitur Anfang meiner Zwanziger das erste Mal mit dem Minimalismus in Berührung gekommen und wurde durch Blogartikel dazu inspiriert, auszumisten. Denn zuvor habe ich mich nie bewusst mit meinem Besitz oder Konsum auseinandergesetzt.
Da ich keinen Leidensdruck oder andere Gründe hatte, weshalb ich mich hätte reduzieren müssen, konnte sich der Prozess ganz organisch und in meinem eigenen Tempo entwickeln, so wie es sich für mich stimmig anfühlte. Es machte mir sogar Spaß und ich habe schnell gemerkt, dass mir dieser Schritt gut tat.
Eine Freundin hat Jahre später in einem anderen Kontext mal zu mir gesagt: "Es ist doch total gut, auch erst mal Dinge auszuschließen, um dem näher zu kommen, was man will." Das beschreibt ganz gut, wie mein Minimalismus-Weg begann.
Es war jedes Mal wie eine Befreiung für mich an, wenn ich etwas verkaufen, verschenken oder im Zweifel auch entsorgen konnte. Es fühlte sich wirklich gut an. Und dadurch entstand auch neuer Raum - nicht nur in meinen Zimmern, sondern auch in meinem Kopf. Ich hatte den Eindruck, es bewegte sich etwas.
Erst durch den neu entstandenen Raum konnte ich mir auch Fragen stellen. "Was will ich eigentlich?", "Wie möchte ich leben?", "Was bereitet mir Freude?" und dann auch "Was ist mir wirklich wichtig?".
Und wer Fragen stellt, bekommt auch hin und wieder Antworten, sodass mich mein durchaus minimalistisches Bestreben auch in Sachen Selbstfindung sehr unterstützt und weitergebracht hat.
Der Minimalismus eröffnet(e) mir also auch Türen. Denn gehen zu lassen, was nicht mehr zu mir passt, bedeutet auch, mit dem Fluss des Lebens zu schwimmen. So durfte auch die Stagnation gehen und ich konnte mich weiterentwickeln, weil dafür eben der Raum war.
Die für mich unnützen Dinge haben mich nicht mehr festgehalten, weil ich sie nicht länger festgehalten habe. Und für alles, was ich hatte, entwickelte ich darüber hinaus eine gesteigerte Wertschätzung.
Nicht nur das. Mit dem ersten Haushalt kamen dann auch praktische Vorteile dazu. Wenn ich Ordnung habe und alles schnell finde, wird mir der Alltag doch sehr erleichtert. Und noch besser funktioniert das natürlich, wenn ich weniger Dinge habe, um die ich mich kümmern muss.
Darüber hinaus spielte zunehmend auch der Umweltschutz eine größere Rolle für mich. "So wie wir konsumieren, kann es doch nicht weitergehen", habe ich immer mehr festgestellt. Aus meinen persönlichen Gründen und den praktischen Vorteilen des Minimalismus wurde etwas Größeres.
Ich habe entschieden, mehr Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln. Es ist durchaus nachhaltiger und ressourcenschonender, die Lebensdauer eines schon vorhandenen Produktes zu verlängern, indem ich etwas repariere oder gebraucht anstatt neu kaufe.
"Brauche ich das wirklich?", habe ich mich immer öfter gefragt und damit dem "Ich kann alles überall und jederzeit kaufen"-Wahn getrotzt. Für mich war und ist der Minimalismus eine Reise, auf der ich zunächst auf der Suche war, dann aber immer mehr Puzzleteile auftauchten, die ich miteinander verbinden konnte.
Und so ist es zu meinem Mindset geworden, mich immer wieder zu fragen, ob ich etwas wirklich benötige. Das ist gar nicht immer so leicht zu beantworten, ich habe allerdings innerhalb der letzten zehn Jahren besser gelernt, meine wahren Bedürfnisse von Schein-Bedürfnissen zu unterschieden, die uns z. B. durch Werbung eingetrichtert werden.
MINIMALISMUS IST UMWELTSCHUTZ
In der Doku "The Minimalists: Less Is Now" wird davon gesprochen, dass ein amerikanischer Haushalt im Schnitt 300.000 Dinge besitzt. Dass dieser Fakt Auswirkungen hat und Spuren hinterlässt, ist doch völlig klar.
Für unseren Planeten: Alles, was produziert wird, benötigt Rohstoffe. Diese Ressourcen werden der Erde entnommen. Holz ist zwar nachhaltig, aber wir können nicht dauerhaft mehr entnehmen, als auch wieder nachwächst. In der ARTE-Doku "Wie Ikea den Planeten plündert" wird das sehr eindrücklich gezeigt.
Andere Rohstoffe wiederum sind endlich, doch wir verbrauchen sie als gäbe es kein Morgen mehr. Die Auswirkungen sind schon zu spüren. Es ist so paradox, denn es wird uns suggeriert, dass das völlig normal ist, denn wir können ohne Begrenzung jederzeit alles kaufen - kein Problem.
"Wenn ich das kaufe, dann wird es mir besser gehen." oder "Wenn ich das habe, löst sich mein Problem.", sind Sätze, die in uns hervorgerufen werden sollen. Und aus der Emotionalität heraus gehört es einen Klick später uns und wird auch noch am nächsten Tag geliefert.
Daher ist Minimalismus nicht unbedingt ein leichter Weg. Er kann für Sinnhaftigkeit und Klarheit sorgen, gleichzeitig ist er nicht immer bequem. Einfacher ist es doch, sich dem Konsum, wie er selbstverständlich ist, hinzugeben und das Spiel einfach mitzuspielen.
Es braucht nämlich zunehmend die Fähigkeit, der Überwältigung der Medien sowie den endlosen Möglichkeiten des Konsums zu entsagen sowie Werbebotschaften nicht zu sehr an sich heranzulassen und sich nicht mit anderen zu vergleichen. Das sind anhaltende Prüfungen.
MINIMALISMUS AUS PERSÖNLICHEN GRÜNDEN
Die Aufgabe besteht darin, wieder zu sich zu finden, herauszufinden, was einem wirklich wichtig ist und welche Bedürfnisse im Fokus stehen. Und andersrum zu merken, wann durch den Konsum nur versucht wird, unerfüllten Bedürfnisse zu kompensieren.
Dir geht es nicht gut, also kaufst du dir etwas, weil du denkst, es geht dir dann besser. Das ist auch kurz der Fall - Dopamin wird ausgeschüttet - aber der Effekt nutzt sich ab und du brauchst wieder etwas Neues.
So geht das Spiel weiter bis du irgendwann in einer Wohnung voller Dinge stehst und statt Ordnung und Klarheit Unordnung und Chaos vorfindest. Sich stattdessen auf ein gutes Gespräch mit einem lieben Menschen zu treffen, führt womöglich eher zu Zufriedenheit und innerer Fülle, die keine äußere Fülle ersetzen kann.
Ich habe im Laufe des Prozesses gemerkt, wie entlastend und entspannend es ist, weniger zu haben. Wenn ich zu viele Dinge besitze, dann bin ich abgelenkt, dann sind es zu viele Reize, die auf mich wirken.
Denn alles, was ich besitze, braucht meine Aufmerksamkeit, meine Zeit und meine Energie. Ich muss meinen Besitz verwalten, also für alles einen Platz finden, es benutzen, säubern, vielleicht mal reparieren, aufräumen und ggf. irgendwann auch aussortieren.
Das ist Arbeit und wird umso mehr, je mehr Dinge du besitzt. Und irgendwann kommst du nicht mehr hinterher, weil der Aufwand schlichtweg zu hoch ist. Dann hast du einfach zu viele Dinge oder zu wenig Zeit - das System ist zusammengebrochen.
Du kommst an eine Grenze. Du bist gestresst, gehetzt, unzufrieden, hast wenig Zeit für freudvolle Dinge oder andere Menschen, weil du eigentlich nur mit deinem Zeug beschäftigt bist.
WORUM GEHT ES BEIM MINIMALISMUS
Ich betrachte den Minimalismus nicht als ein starres Konzept. Er ist eine Reise des Suchens und Findens, etwas, das nach Lösungen strebt. Beim Minimalismus geht es nicht nur um das Weniger, sondern viel mehr darum, dass etwas bleibt, wenn etwas anderes geht.
Ich verbinde Minimalismus mit einer Idee, die u. a. dabei hilft, Antworten auf Fragen zu finden, die die Notwenigkeit besitzen, gestellt zu werden - sowohl auf sich selbst bezogen als auch auf die Umwelt.
Möchte ich weitermachen wie bisher?
Ist es das, was ich will?
Wie möchte ich wirklich leben?
Wie möchte ich mit anderen im Kontakt sein?
Kann es mit der Erde so weitergehen wie bisher?
Was kann ich beitragen?
Wo möchte ich Verantwortung übernehmen?
So kann Minimalismus bspw. eine Antwort auf die schier unbegrenzten Möglichkeiten und das konsumorientierte Leben mit dem all dem Überfluss und all den negativen Konsequenzen für Menschen, Umwelt und Tiere sein. Oder er ist eine Antwort auf die eigenen begrenzten Kapazitäten, die überschritten sind.
"Minimalismus ist etwas, das uns Sachen überwinden lässt, damit Platz für die wichtigen Dinge im Leben haben, die gar keine Gegenstände sind." Aus der Doku "Weniger ist jetzt" (Less Is Now, USA 2021)
WAS IST MINIMALISMUS? - MEINE PERSÖNLICHE DEFINITION
Wenn man Suchmaschinen fragt, findet man Beschreibungen wie "bewusste Beschränkung auf ein Minimum, auf das Nötigste" ("DUDEN"). Das würde ich unterschreiben. Aber reicht das aus?
Ist es nicht zu leicht, lediglich die quantitative Ebene zu betrachten? Spielt nicht auch die Qualität eine mindestens genauso große Rolle? Mit Qualität meine ich, dass im Minimalismus viel mehr steckt als nur der reine Blick auf den Besitz, z. B. auf die individuellen Motive.
Ich finde, es wird der Idee des Minimalismus und wie ich ihn in meiner Entwicklung er- sowie gelebt habe und lebe nicht ausreichend gerecht bzw. es ist nur die halbe Wahrheit, wenn die Definition lautet: "Minimalismus ist ein auf das Wesentliche reduzierter Lebensstil".
Aus meiner persönlichen Suche und dem Ausmisten als Beginn meiner Reise wurde etwas Größeres, etwas Ganzheitliches. Es sind Werte und eine Haltung entstanden. Und so geht Minimalismus auch Hand in Hand mit Nachhaltigkeit, mit dem bewussten Blick auf die Umwelt, aber auch auf die eigene Persönlichkeit.
Deswegen würde ich es gern erweiterter und differenzierter formulieren:
„Minimalismus bezeichnet die bewusste Haltung, den eigenen Besitz und Konsum in Bezug auf die Ressourcen der Erde sowie auf die eigenen Bedürfnisse zu hinterfragen und dahingehend im Rahmen der eigenen Kapazitäten verantwortungsvoll zu handeln."
Kennst du deine eigenen Bedürfnisse, z. B. wie viele äußere Reize dir gut tun, und sind dir die begrenzten Ressourcen der Erde bewusst, dann kannst du dafür Verantwortung übernehmen und deine Verhaltensweisen entsprechend anpassen, soweit es im Rahmen deiner persönlichen Kapazitäten liegt.
Für mich gibt es demnach nicht den perfekten Minimalismus. Es ist ein Zusammenspiel aus unterschiedlichsten Faktoren mit der bewussten Absicht, möglichst verantwortungsvoll zu agieren - ob für sich selbst, für die Umwelt oder in Kombination.
BIN ICH EIN MINIMALIST?
Heute, ca. 10 Jahre nach der ersten Berührung mit dem Thema Minimalismus, würde ich von mir behaupten, durchaus minimalistisch zu leben, indem ich bspw. wenig Wohnraum beanspruche oder immer wieder Dinge weitergebe, die ich nicht mehr benötige, jemand anderes aber durchaus brauchen kann.
Gleichzeitig besitze ich bspw. zwei Fahrräder, einen Entsafter, einen Food Processor und diverse Werkzeuge. "Nötig" ist das sicher nicht, doch sind die meisten Dinge davon aus zweiter Hand und erfüllen einen Zweck für mich.
Das, was ich habe, bereichert mein Leben, ich empfinde Wertschätzung dafür. All meine Dinge haben entweder einen Nutzen für mich oder sie bereiten mir Freude. Warum sollte ich also Dinge besitzen, die das nicht erfüllen?
Ich probiere mich auch mal in meinem Kleidungsstil aus. Dann kaufe ich Kleidungsstücke - meist auch Second Hand - und es kann gut sein, dass ich sie teilweise wieder weiterverkaufe oder spende.
Es geht auch nicht darum, irgendwann "fertig" zu sein und sich dann nicht mehr zu verändern, das wäre utopisch. Das Leben entwickelt sich und ich als Mensch verändere mich auch und so bleiben auch die Dinge in meinem Leben nicht immer die gleichen.
Und versteh mich nicht falsch: Second Hand ist nicht der einzige Gradmesser. Ich bin nur davon überzeugt, dass wir uns keinen Gefallen damit tun, ständig neue Dinge zu produzieren und damit wertvolle Ressourcen zu beanspruchen, obwohl wir wahrscheinlich noch sehr lange mit dem leben könnten, was bereits da ist.
Daher hinterfrage ich im Sinne unserer Ressourcen meinen Konsum und versuche, möglichst viel gebraucht zu kaufen. Darüber hinaus halte ich meinen eigenen Besitz insofern begrenzt, dass ich nicht von zu vielen Dingen umgeben bin, die mich überreizen oder zu Überforderung führen.
Ich fühle mich damit freier und flexibler. Denn alles, was ich besitze, braucht meine Aufmerksamkeit, meine Energie und Zeit. Es will verstaut, benutzt, gereinigt, möglicherweise repariert, aufgeräumt und ggf. verkauft oder entsorgt werden.
FAZIT
Der Minimalismus ist eine Reise. Er kann Antworten auf Fragen liefern und ist für mich kein starres Konzept, das anhand einer bestimmten Anzahl an Dingen oder "dem Nötigsten" bemessen wird. Das wäre mir zu stumpf und zu einschränkend.
Stattdessen sehe ich den Minimalismus als eine Idee an, die mehr kann und mehr ist - nämlich bewusst eine verantwortungsvolle Rolle einzunehmen. "Brauche ich das wirklich?" kann dabei die übergeordnete Frage in Bezug auf den eigenen Besitz und Konsum sein.
Sie hat den achtsamen Umgang mit den eigenen Möglichkeiten und Kapazitäten genauso im Blick wie die Ressourcen unseres Planeten. Das ist für mich ganzheitlich und nachhaltig gedachter Minimalismus. Er ist durch ein individuelles Motiv und diverse Faktoren, die einen minimalistischen Lebensstil ausmachen können, geprägt.
Ich hoffe, dieser Artikel hat dir gefallen und du wurdest beim Lesen inspiriert. Ich freue mich immer über Rückmeldung und wenn du den Artikel an jemanden weiterleitest, die/der davon profitieren könnte.
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